Aus: Hans-Jürgen Lenhart, Doppelclick
CASABLANCADas "Casablanca" ist ein Restaurant, in dem ein riesiges Foto aus dem gleichnamigen Kultfilm als Fototapete hängt. Es geht bis an die Decke. Man kann es also nicht übersehen. Es zeigt eine Szene in dem Lokal, in dem der Film hauptsächlich spielt, in der sich Rick alias Humphrey Bogart unter der Aufmerksamkeit der Gäste dem schwarzen Pianisten Sam zuwendet und wahrscheinlich die berühmten Worte „Play it again, Sam!" sagt. In gewissen Abständen speiste ich dort zu Abend. Irgendwann blieb mein Blick während eines solchen Mahles an einem Detail dieses Fotos hängen. Der gewisse Ausschnitt des Fotos, den ich meine, kam mir vor wie ein Kippbild. In der Unschärfe der starken Vergrößerung war ich mir unsicher, ob ich dabei eine Frau erkannte, die ihre Backen stark aufblies, oder ob die vermeintlichen Backen eher eine Art Haarschleife im Kopf davor sein konnte. Intuitiv tendierte ich zur ersten Lösung, rational war die zweite wahrscheinlicher. Diese würde aber bedeuten, dass der vordere Kopf den hinteren auch etwas verdecken würde, was in den Unschärfen aber ineinander verlief. Jedes Mal prüfte ich aufs Neue, welche Interpretation mir zuerst ins Auge springen würde und machte es zu einem Ritual meiner Besuche im Restaurant. Nachdem ich aber eine Weile lang nicht mehr ins Lokal gekommen war, passierte es, dass ich das Kippbild bei meinem nächsten Besuch im Gewusel der auf der Fototapete dargestellten Menge nicht mehr wiederfand. Ich war erstaunt, hatte ich es doch schon so oft entdeckt und fand es auch nicht schwer zu finden. Ich begann zu suchen und als ich das Gefühl hatte, kurz vor dem Wiederfinden zu sein, klopfte mir eine Bekannte auf die Schulter und ich verlor den Blick dafür. Natürlich wollte ich nicht unhöflich sein, bat sie, sich zu mir zu setzen und wir verwickelten uns in ein nettes Gespräch. Als sie gerade eine Weile am Reden war, streifte mein Blick an ihrem Kopf vorbei die Gäste im Hintergrund. Ich erkannte sofort eine Person in der Menge, welche mich zusammenzucken ließ. Meine Bekannte saß zwar nicht mit dem Rücken zum Foto, aber die Person, welche ich zu sehen glaubte, war genau diejenige, die ich auf dem Foto vergeblich gesucht hatte: Die Frau mit der Haarschleife, die der Frau im Foto dahinter das Gesicht verdeckt hatte. Da Haarschleifen nun nicht mehr gerade häufig vorkommen, sprang sie mir sofort ins Auge. Doch trug dazu bei, dass sie in der gleichen Art da saß, wie ich es vom Foto her kannte und auch ebenso angezogen war. Ich war konsterniert, unterbrach meine Bekannte abrupt und entschuldigte mich dafür, dass ich jemand entdeckt hätte, die gerade am Gehen wäre, der ich aber unbedingt noch etwas Dringendes mitzuteilen hätte. So eilte ich sofort zum Tisch der mysteriösen Frau, doch stand diese tatsächlich in diesem Moment auf und eilte schneller zur Tür als ich sie abfangen konnte. Dazu sprang sie ausnehmend hastig hoch, beugte sich dabei ungewöhnlich stark nach vorne, sodass ich schon befürchtete, sie würde gleich stürzen. Dann verschwand sie wie gehetzt aus dem Lokal als hätte sie meine Verfolgungsabsichten geahnt. Ich gab zwar nicht so schnell auf, rannte nach draußen, ihr nachzueilen, doch war nichts mehr von ihr zu sehen. Enttäuscht musste ich mich wieder zurückbegeben und überlegte schon, welche Geschichte ich meiner Bekannten auftischen würde, die ja diese Szene beobachtet haben musste und die ihr bestimmt merkwürdig vorgekommen war. Zumindest blieb mir das Bild der aufspringenden Frau gut im Kopf haften, da ich sie wirklich in diesem Moment schon im Lauf stürzen gesehen hatte. Ich tischte zwar meiner Bekannten eine umständlich konstruierte Geschichte von einer Schuldnerin von mir auf, weil ich dachte, das würde sie mir am ehesten abnehmen, jedoch wurde ich im Laufe der Zeit immer unkonzentrierter, weil mich das Erlebnis nicht losließ. Mein Gegenüber musste dies irgendwann an meiner zunehmenden Wortkargheit bemerkt haben und beschloss, sich bald zu verabschieden, während ich gedankenverloren allmählich meinen Blick wieder der Fototapete zuwandte. Doch diesmal verfingen sich meine Augen in einem anderen Detail. Es handelte sich um eine Gruppe von Leuten, die dem Pianisten vorne zusahen, sich unterhielten, tranken oder auch zuwinkten. Plötzlich ergab sich erneut aus der unscharfen, weil stark vergrößerten Gruppierung eine ungewöhnliche Verdichtung, eine Gestalt, die allmählich definiert werden konnte, ein Umschlagen der Bildinformation in eine Art Neusichtung. Fast in einer Art pointillistischer Ansammlung von Rasterpunkten von schwarzen und weißen Flecken, Unschärfen, Strichen, Schatten, wolkenartigen Gebilden oder Geriesel entdeckte ich plötzlich deutlich die Gestalt der flüchtenden Dame genauso wie ich sie mir eingeprägt hatte. Ich war perplex. Ich musste mich getäuscht haben. So sah ich absichtlich wieder weg, winkte der Kellnerin zu zahlen und beschloss, erst dann wieder hinzusehen, wenn ich meine Rechnung beglichen hätte. Als dies erledigt war und ich meinen Blick wieder dem Foto zuwandte, erkannte ich erneut die stürzende Frauenfigur.
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